Offene Sprechstunden, Yoga im Sitzen und Zeit
Anja Scherer ist Pastoralreferentin und Referentin für inklusive Seelsorge. Sie kümmert sich vor allem um die Seelsorge für psychisch kranke Menschen außerhalb des stationären Bereichs.
Frau Scherer, was ist konkret Ihre Aufgabe?
Anja Scherer: Für das ganze Bistum bin ich ansprechbar für Seelsorgerinnen und Seelsorger sowie für die Pastoralteams, wenn es Fragen rund um psychische Gesundheit oder die Seelsorge für psychisch beeinträchtigte Menschen gibt.
Konkret mache ich seelsorgliche und spirituelle Angebote im Raum Frankfurt. Das sind beispielsweise Andachten in Wohneinrichtungen für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen oder in Tageskliniken, meist mit genug Zeit für Gespräche im Anschluss. In einem Café in der Stadt gibt es offene Sprechstunden mit Zeit für Gespräch über Gott und die Welt und hin und wieder Ausflüge mit spiritueller Note. Demnächst gibt es in Kooperation mit der Caritas Yoga im Sitzen. Die Angebote werden in einem monatlichen Programm veröffentlicht und an Interessierte und Einrichtungen verschickt. Sie sind immer offen für alle Menschen, aber mit besonderem Blick auf die Zielgruppe der Menschen mit psychischer Beeinträchtigung gestaltet.
Ein weiterer wichtiger Aufgabenbereich ist das Engagement in kirchlichen und städtischen Netzwerken, vor allem dort, wo es um Unterstützung für psychisch beeinträchtigte Menschen und das Thema seelische Gesundheit geht. Da gibt es unter anderem das Frankfurter Netzwerk für Suizidprävention oder einen Arbeitskreis der Begegnungsstätten in gemeindepsychiatrischen Einrichtungen der Stadt. Als Seelsorgerin und Vertreterin der katholischen Kirche bringe ich dort den Blick der Seelsorge, mein Wissen und meine Erfahrung ein. Gleichzeitig kann ich viel erfahren über die Versorgungs- und Unterstützungssituation psychisch kranker und beeinträchtigter Menschen und über deren Bedürfnisse. Auch Angehörige und das weitere Umfeld habe ich dabei im Blick. So gelingt es, dass ich Menschen ein gutes Unterstützungsangebot weitergeben kann, das ich in diesen Netzwerken kennenlerne. Andersherum finden Menschen mit ihren Anliegen zu mir, bitten um ein Gespräch oder nehmen an einem Angebot teil, weil sie davon über einen Netzwerkpartner erfahren.
Warum ist diese Form der Seelsorge wichtig?
Scherer: Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen haben aus verschiedenen Gründen oft keinen Zugang zu Seelsorge etwa in Kirchengemeinden. Mit den seelsorglichen Angeboten ermögliche ich genau dieser Zielgruppe, ihr Recht auf die Ausübung einer Religion zu realisieren. So gibt es Raum für existentielle Fragen und religiöse Erfahrung, die Möglichkeit für soziale Kontakte und das Erleben von Wertschätzung und Zuspruch.
Die Angebote sind niederschwellig. Sie finden an nicht ausdrücklich kirchlichen Orten statt. In kleinen Gruppen mit Menschen, die ähnliche Schwierigkeiten haben, fällt es oft leichter, teilzunehmen und sich zu öffnen. Die Seelsorge ist so eine Ergänzung zu allen anderen Angeboten, beispielsweise in den Pfarreien.
Statistiken zeigen deutlich: Die Zahl der Menschen mit psychischer Erkrankung oder Behinderung wächst. Gemeinsam mit den Angehörigen und Mitarbeitenden in Betreuung, Pflege und Unterstützung dieser Menschen ist das eine große Gruppe, der Kirche und Seelsorge Aufmerksamkeit und Beachtung schenken muss.
Was sind im Alltag Hürden für Menschen mit psychischen Erkrankungen?
Scherer: Hürden gibt es viele und sie sie sind so vielfältig wie auch die Art und die Schwere psychischer Erkrankungen. Psychische Erkrankungen sind heute immer noch für viele Menschen beängstigend und mit Vorurteilen behaftet. „Jemand muss doch schuld sein, wenn ein Mensch depressiv wird oder eine Persönlichkeitsstörung entwickelt.“ Oder: „Wieso kann er oder sie nicht arbeiten wie alle oder pünktlich zu einem Termin erscheinen. Das ist doch auch Faulheit und Bequemlichkeit.“ Das sind Meinungen und Reaktionen, mit denen psychisch kranke Menschen konfrontiert werden. Sie fühlen sich oft stigmatisiert und ausgegrenzt. Sie erleben Unverständnis, Distanziertheit und Ablehnung. Gleichzeitig haben die Menschen Schwierigkeiten, ihren Alltag zu bewältigen oder einen Beruf auszuüben. Oft ist es auch schwierig, Freundschaften und Beziehungen zu führen. Die Teilnahme an Veranstaltungen ist für viele schwierig: Es gibt Ängste vor vielen Menschen; die Menschen haben eine kurze Aufmerksamkeitsspanne oder einfach Schwierigkeiten, sich zum richtigen Zeitpunkt auf den Weg zu machen oder genug Energie aufzubringen. Das führt nicht selten zu Rückzug und Isolierung und dem Gefühl, nichts wert zu sein.
Was kann jede und jeder Einzelne in diesem Bereich für mehr Inklusion tun?
Scherer: Wie bei allen Menschen halte ich es für wichtig, die Menschen so zu nehmen und zu akzeptieren, wie sie sind. Und zu jedem Menschen gehören Stärken, Schwächen und kleinere oder größere Handicaps. Es ist wichtig zu sehen, dass eine psychische Erkrankung im Grunde jeden treffen kann und nichts mit Schuld zu tun hat. Das hilft, die Krankheit als Teil des Menschen zu sehen, ohne ihn darauf zu reduzieren. Und wer etwas über psychische Erkrankungen weiß, bringt leichter Verständnis auf für die Besonderheiten und Herausforderungen, die eine solche Krankheit mit sich bringt. Information ist also ebenso wichtig, wie ein offener und vorurteilsfreier Umgang mit den Menschen.
Gibt es ein besonderes Erlebnis, das Sie in Ihrer Zeit als Seelsorgerin geprägt hat?
Scherer: Da gibt es wirklich viele.
In meiner Zeit der Gemeindeseelsorge habe ich einmal ehrenamtliche Jugendliche gesucht, die bei der Vorbereitung eines Krippenspiels mitmachten. Gedacht hatte ich an jemanden, der mit den Kindern die Texte übt, bei der Deko hilft, vielleicht eine fehlende Rolle übernimmt… Gemeldet haben sich zwei Jugendliche mit Interesse an Technik, die Beleuchtung und die richtige Ausstattung mit Mikrofonen übernehmen wollten. Das hatte ich gar nicht im Sinn. Die Vorbereitung und Durchführung des Krippenspiels lief ganz anders, als ich es dachte – aber es war toll. Die beiden Jugendlichen waren mit Freude, Eifer und viel Kompetenz dabei und es gab einige Jahre lang ausgefeilt beleuchtete und technisch gut ausgestattete Krippenspiele. An dieser Begebenheit habe ich viel gelernt. Unter anderem, dass wir als Seelsorgende und kirchliche Mitarbeitende die Menschen unterstützen sollten, ihre Talente und Stärken zu entdecken und diese für sich und in der Gemeinschaft einzubringen. Wer etwas gerne und mit Freude tut, macht es gut und erlebt sich als wirksam und wertvoll. Das gilt für alle Menschen, egal mit welchen kleinen oder größeren Beeinträchtigungen.
Was macht Ihnen in Ihrer Tätigkeit als Seelsorgerin für psychisch erkrankte Menschen außerhalb des stationären Bereichs besonders Spaß? Was erfüllt Sie besonders?
Scherer: Nach erst einigen Monaten bin ich noch neu in diesem Feld der Seelsorge für Menschen mit Behinderung unterwegs. Es macht Spaß, Neues zu lernen über psychische Erkrankungen und ihre Herausforderungen, über Hilfe- und Unterstützungssysteme und über tolle Projekte.
Es ist eine Freude, so viele wunderbare Menschen kennen zu lernen. Da ist ein psychisch sehr kranker Bewohner in einer Einrichtung, der eine bewundernswerte Begabung hat, sich in der Kunst auszudrücken. Da ist die Teilnehmerin an einem Gottesdienst, die sich traut, für alle den Segen zu sprechen und mich mit ihrer Art und ihren Worten so berührt. Da ist der Mitarbeiter in einer Einrichtung, der so herzlich, wertschätzend und kompetent mit den Menschen umgeht, dass es allen ein Strahlen ins Gesicht zaubert – ein Mensch genau am richtigen Platz. Oder die psychisch beeinträchtigen Menschen, die als Beschäftigungsprojekt ein Café führen und mit so viel Herz den Cappuccino für mich zubereiten. Die Liste kann ich noch lange fortführen.
Ein Highlight unter vielen sind für mich die kleinen Gottesdienste mit Begegnung und kreativem Angebot. Da entstehen tolle Kerzen oder kleine Ostergrüße, da gibt es gute Gespräche, berührende Gebete, Fragen und Glaubenszeugnisse und oft ein so herzliches Miteinander. Da gelingt es einen Raum zu öffnen für religiöse Erfahrung, für wertschätzendes Miteinander und ein Lachen und Strahlen hier und dort. Da ist Gott und das Leben in ganz kleinen Dingen spürbar. Das erfüllt mich und hoffentlich auch die, die mitmachen und teilnehmen.