FRANKFURT, 01.12.2020
„Dazu muss das Christentum doch etwas zu sagen haben!“
Corona ist eine Demütigung für unsere Gesellschaft. Mit diesem Statement überraschte Professor Christof Mandry vom Lehrstuhl für Moraltheologie und Sozialethik an der Goethe-Uni in seinem Vortrag am Montagabend. „In einer Gesellschaft, die so stark auf Sicherheit setzt, ist es eine Ernüchterung und Demütigung, dass all unsere Technik, Medizin und Organisation uns nicht schützen können“, so der christliche Sozialethiker. Wir fühlten uns sicher in unserer hochmodernen Welt, und doch zeige die Pandemie, wie verletzlich wir noch immer sind.
Mandry sprach bei der Stadtversammlung der Frankfurter Katholikinnen und Katholiken, die erstmals digital stattfand und in deren Mittelpunkt die Corona-Pandemie stand. In den kommenden Tagen werden sich die Teilnehmer der Stadtversammlung in spezialisierten Kleingruppen weiter mit der Pandemie und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen beschäftigen.
Mandry bestätigte, dass die Pandemie wie ein Brennglas wirke. „Vieles erscheint dadurch verzerrt, manches ganz groß und dringend, andere Dinge rücken in den Hintergrund.“ Die christliche Aufgabe dabei sei es, wachsam zu bleiben und zu hinterfragen, welche Dinge durch die Pandemie klein wirken, obwohl sie in Wirklichkeit noch immer wichtig seien.

Durch Corona in den Blickpunkt rückt natürlich die bestehende Problematik des Fachkräftemangels im Gesundheitssektor. Aber die Pandemie zeigt auch, wie es unter Druck um die persönliche Freiheit bestellt ist. „Wir alle haben als Gesellschaft einen großen Drang, beeinträchtigte Menschen zu schützen, wenn nötig auch durch Abschottung und Isolation“, sagte der Sozialethiker. Und um welchen Preis? „Betroffene werden gar nicht gefragt, ob sie das wollen, Autonomie spielt in der Corona-Krise keine entscheidende Rolle.“
50.000 Menschen sind isoliert
Die alten, schwachen und kranken Menschen leiden schweigend. Anders, aber ebenfalls stark betroffen sind Kinder aus nicht-bildungsaffinen Familien. Denn beim digitalen Unterricht sind sie klar im Nachteil, sagte Mandry – Schätzungen zufolge würden zehn Prozent dieser Kinder abgehängt. Wieder eine andere Gruppe, die verdeckt leidet, sind die vielen Menschen, die durch Corona in eine soziale Isolation gerieten und dadurch psychische Probleme zu bekommen. Absolute Zahlen gibt es dazu nicht, wohl aber Eindrücke: Einer Studie zufolge gaben 8,1 Prozent der Befragten an, die Pandemie zunächst als Entschleunigung empfunden zu haben, sich nun aber isoliert zu fühlen. „In einer großen Stadt wie Frankfurt sind das immerhin rund 50.000 Menschen“, unterstrich Mandry.
Doch nicht alle schweigen. Wie sollte die Gesellschaft mit denen umgehen, die ihren Frust herausschreien? Ob Querdenker, AfD oder andere Splittergruppen: „15 Prozent der Gesellschaft lehnen die Corona-Kontaktbeschränkungen ab“, sagte der christliche Sozialethiker. Ziel muss es sein, wieder mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
Antworten geben
Und welche Rolle spielt Gott überhaupt in der Pandemie? „Es scheint, dass die Kirche dabei aktiv keine Rolle spielt“, so Mandry. „Wenn Corona keine Strafe Gottes ist, lässt es sich dann überhaupt theologisch framen?“ Seine Antwort: Ja, aber nur dann, wenn die Religion Antworten bietet. Der Bedarf ist da: „Durch die Pandemie sind wir wieder konfrontiert mit unserer eigenen Verletzlichkeit – über Nacht wieder auf Existenzielles zurückgeworfen. Die moderne Medizin und Technik können uns nicht helfen, das Sicherheitsversprechen ist ein leeres Versprechen. Das ist etwas, wozu das Christentum doch etwas zu haben sollte.“
Corona in Frankfurt
In den nächsten Tagen treffen sich die Teilnehmer in sieben Kleingruppen, die sich über weitere Mitstreiter freuen. Ziel ist es, die Überlegungen zu den gesellschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise in Frankfurt weiter zu vertiefen und die Erkenntnisse dem Vorstand zur Verfügung zu stellen. Anmeldung unter synodal@stadtkirche-ffm.de.
Übersicht über die Kleingruppen
Welche Auswirkungen hat die Corona-Krise …
1. … für Jugendliche?
Mit Barbara Weichler, Junularo e.V., zusammen mit einer Jugendlichen
Termin: Mittwoch, 16.12., 18:30-19:30
2. … für Familien mit Kindern von 0-3 Jahren?
Mit Sigrid Kemler, Katholische Familienbildungsstätte in der Nordweststadt
Termin: Montag, 7.12., 18:30-19:30
3. … auf den Arbeitsmarkt?
Mit Florian Schwarz, Agentur für Arbeit Frankfurt am Main
Termin: Montag, 14.12., 19:00-20:00
4. … für Geflüchtete?
Mit Dr. Robert Biersack und Anne Grothe, Caritasverband Frankfurt e.V.
Termin: Donnerstag, 3.12., 17-18 Uhr
5. … für Migrant*innen?
Mit Florence Kovarbasic, Mitglied der Stadtversammlung und der französischsprachigen Gemeinde, sowie einem Mitglied der polnischen Gemeinde (angefragt)
Termin: Mittwoch, 9.12. , 18:30-19:30
6. … auf Spiritualität und Gottesdienste?
Mit Samuel Stricker, Zentrum für christliche Meditation und Spiritualität Heilig Kreuz in Bornheim
Termin: Mittwoch, 9.12., 18:30-19:30
7. … für Patient*innen und Personal in Krankenhäusern?
Mit Andrea Gerhards, Klinikseelsorgerin im Nordwestkrankenhaus
Termin: Dienstag, 8.12., 18:30-19:30