Eindringlicher Aufruf: „Für Werte einstehen und Brücken bauen!“
Gerhard Feige, Bischof von Magdeburg, hat seine Predigt beim diesjährigen Karlsamt dazu genutzt, seine Kirche im Umgang mit den Opfern von sexueller Gewalt zu Transparenz und Bekehrung, Buße und Erneuerung aufzufordern. Es dürfe nicht verschwiegen werden, dass „vieles am Christentum auch sehr irdisch ist und Menschen schwer enttäuschen kann. Immer wieder stellen Versagen und Sünde, ja sogar Skandale und Verbrechen unsere Glaubwürdigkeit in Frage“, sagte Feige am Samstagabend im Kaiserdom St. Bartholomäus in Frankfurt. Dazu gehörten aktuell vor allem der sexuelle Missbrauch Minderjähriger und mancher willkürliche Umgang mit Macht. Umkehr und Erneuerung seien umso dringender nötig, weil die Kirche hohe moralische Ansprüche vertrete: „Schließlich war und ist der liebevolle Dienst am Nächsten schon von Anfang an ein besonderes Markenzeichen des Christentums, die bedingungslose Zuwendung zu den Schwachen, Armen und Ausgegrenzten, zu denen, die auf beschämende Weise ihrer Würde und Freiheit beraubt sind.“
Bischof Feige war der diesjährige Ehrengast und Hauptzelebrant des beliebten Pontifikalamts, das jedes Jahr Ende Januar zu Ehren von Karl dem Großen jährlich um dessen Todes- und Gedenktag abgehalten wird. Er feierte die Messe in Beisein des Limburger Bischofs Georg Bätzing und des Frankfurter Stadtdekans Johannes zu Eltz. In der Corona-Pandemie eine besondere Herausforderung, ist der Dom doch normalerweise bis auf den letzten Platz besetzt. Diesmal allerdings mussten, ebenso wie beim traditionellen Domgespräch, das zuvor im Haus am Dom geführt wurde, die meisten Plätze freibleiben. Unter Einhaltung der strengen Hygiene-Bestimmungen durften nur etwa 150 Menschen persönlich am Karlsamt teilnehmen. Allen anderen blieb der Livestream, der am Samstagabend bereits mehr als 1500 mal geklickt worden war.
Auch wenn Karlssequenz und Kaiserlaudes – die traditionellen Musikstücke – diesmal allein von den beiden Kantoren Peter Reulein und Johannes Wilhelmi (beide Bariton) gesungen wurden, erlebten sowohl die wenigen Besucher im Dom als auch die Zuschauer daheim vor den Bildschirmen ein stimmungsvolles Karlsamt, das viele Anknüpfungspunkte an aktuelle innerdeutsche und europäische politische Geschehnisse fand.
„Dass das Karlsamt stattfindet, ehrt unsere Stadt“
So sagte Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) in seiner Ansprache, in den Karlsstädten Frankfurt und Aachen sei man gewohnt, Karl den Großen als „Vater Europas“ zu bezeichnen. Tatsächlich habe dieser „Vater“ seine Familie oft mit Gewalt zueinander getrieben – doch diese Versuche seien, ebenso wie alle späteren, die Einigung Europas auf Gewalt zu gründen, gescheitert. Dies zeige, dass das heutige freie, friedliche Europa nicht selbstverständlich sei; Geschehnisse wie der Brexit machten dies umso mehr bewusst. Dass das Karlsamt auch in diesen schwierigen Zeiten stattfände, ehre Frankfurt, sagte Feldmann: „Das ist für mich so etwas wie ein kleines Neujahrswunder.“ Das Karlsamt erinnere an die tiefen Wurzeln Karls des Großen in der Europäischen Geschichte und mahne zugleich die Voraussetzung an, die dieses Europa heute zusammenhält. „Der Geist des Friedens, das Bewusstsein der gemeinsamen Geschichte findet in dieser besonderen Messe ihren Ausdruck.“
Sturm auf’s Kapitol ernüchtert
Auch Bischof Feige ging in seiner Predigt auf aktuelle politische Ereignisse ein. Heute wie zu Jesu Zeiten gebe es „offenbar unheilvolle Mächte und Gewalten, die einflussreicher sind und dazu beitragen, dass Menschen sich selbst entfremden.“ Eindrücklich habe sich dies in der Zeit des Nationalsozialismus verdichtet, aber auch unter kommunistischer Herrschaft oder in anderen Diktaturen. „Doch wir brauchen gar nicht so weit in die Geschichte zurückzugehen: Der Sturm auf das Kapitol in Washington stellt uns ernüchternd vor Augen, wozu sich auch Zeitgenossen hinreißen lassen können“, so der Bischof. „Und selbst bei uns verschärfen sich die Spannungen, werden gerade in den sogenannten sozialen Medien zunehmend irrationale Empörungswellen und Hasslawinen ausgelöst, erstarken rechtsextreme und populistische Gruppierungen.“
Schon seit längerem haben Ressentiments und Abgrenzungen wieder zugenommen, seien Eigeninteressen wichtiger als der Sinn für Solidarität. Nächstenliebe werde immer mehr zum Fremdwort und Menschenfeindlichkeit gesellschaftsfähig. Dies beobachte er derzeit auch im Umgang mit Flüchtlingen so entgegen: „Das inzwischen abgebrannte Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist ein zutiefst beschämendes Zeichen. Und dass derzeit unzählige Menschen in Bosnien bei eisiger Kälte ihrem Schicksal überlassen sind oder andere weiterhin im Mittelmeer ertrinken, ist ein nicht hinzunehmender Skandal“, so der Bischof.
Aufforderung an alle Christinnen und Christen
Er forderte die Christinnen und Christen auf der Welt dazu auf, angesichts der aktuellen Herausforderungen wie Corona-Krise und Migration solidarisch zu handeln. „Aber auch in anderen Bereichen gilt es, für Werte einzustehen, die zu einem Leben in Freiheit dazugehören: die unbedingte Achtung vor der Würde jedes Menschen vom Embryo bis zum Sterbenden, für Frieden und Gerechtigkeit, Demokratie und Toleranz, Verantwortung und Solidarität, ja sogar für Barmherzigkeit und Liebe. Damit können wir auch zu Brücken der Verständigung zwischen unseren europäischen Völkern werden.“ Die Kirche müsse ihren Beitrag dazu leisten, alles zu tun, um Europa eine von Spiritualität und einer tieferen Bedeutung erfüllten Seele zu schenken, wie es 1992 der damalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors eingefordert habe. Das moderne Europa werde auf die Dauer nur Bestand haben, zitierte Feige den emeritierten Kardinal Walter Kasper, wenn es seine religiöse und insbesondere seine christliche Seele wiederentdecke.
Ein Mahner der Geschichte
Der Limburger Bischof Bätzing dankte dem Gast für sein Kommen unter diesen besonderen Umständen – und die Unterstützung dabei, die Tradition des Karlsamtes fortzuführen. Dass sie auch in diesem Jahr nicht unterbrochen würde, sei gut so, sagte Georg Bätzing, der seinen Bischofskollegen direkt ansprach: „Mit dir haben wir eine Stimme aus dem Osten unseres Landes, die uns Bischöfe in der Bischofskonferenz immer und immer wieder daran erinnert, Christinnen und Christen und die Bürgerinnen und Bürger mit ihren Erfahrungen im Osten nicht zu vergessen – und nicht zu denken, unsere Perspektive hier im Westen sei das A und O. Du mahnst uns immer wieder dazu. Lass mich dir an dieser Stelle einmal herzlich dafür danken. Bitte gib es nicht auf.“
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