Lebenspfade / Ścieżki życia
So viele Menschen, so viele Geschichten: Seit mehr als einem Jahrhundert prägen zugewanderte Menschen aus Polen die Region RheinMain. Mehr als 150.000 Polnischstämmige leben zwischen Wiesbaden und Hanau, Heppenheim und Bad Nauheim – und vor allem in Frankfurt. Damit sind sie nach Zuwanderern aus der Türkei die zweitgrößte Migrantengruppe. Sie prägen die deutsche Gesellschaft sehr viel stärker als gemeinhin bekannt.
Die Ausstellung „Lebenspfade / Ścieżki życia“ , die vom 6. November bis zum 31. Januar 2020 im Frankfurter Haus am Dom, Domplatz 3, gezeigt wird, gibt ihnen Gesichter und erzählt ihre Geschichten. Mehr als 50 Lebensläufe von Polinnen und Polen werden dargestellt und mit vielen Abbildungen illustriert. Videosequenzen demonstrieren, was Zuwanderer unter Heimat verstehen. Eine Reihe spannender Begleitveranstaltungen vertieft das Thema ebenso wie eine rund 200 Seiten zählende Veröffentlichung mit zahlreichen zusätzlichen Informationen rund um das Thema „Polnische Spuren in RheinMain“.
Ausstellungseröffnung am Dienstag, 5. November 2019, 19 Uhr
mit u.a. Generalkonsul der Republik Polen Jakub Wawrzyniak und Dr. Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt
Musikalische Begleitung: Marcin Gortel Quartett
Polnische Zwangsarbeiter im Rhein-Main-Gebiet
Die Region an Rhein und Main war im Gegensatz zum Ruhrgebiet oder Großstädten im Norden und Osten Deutschlands lange kein Anziehungspunkt für Menschen aus Polen. Zwar war Offenbach am Ende des 18. Jahrhunderts Zentrum der polnisch-jüdischen Sekte der Frankisten, allerdings nur für wenige Jahre. Kurorte wie Wiesbaden, Bad Homburg und später auch Bad Nauheim lockten Jahr für Jahr hunderte polnischer Gäste an, jedoch nur die betuchten. Seit Ende des 19. Jahrhunderts kamen vereinzelt polnische Landarbeiter in die Region. Schließlich lebten vor dem Ersten Weltkrieg in Frankfurt und Umgebung einige hundert aus Polen stammende Juden, die jedoch oft gar kein Polnisch sprachen. Die meisten von ihnen wurden 1938 bei der „Polenaktion“ aus Deutschland deportiert.
Im Zweiten Weltkrieg gelangten zehntausende polnischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in landwirtschaftliche Betriebe oder Fabriken der Gegend. In den Lagern, wie Kelsterbach oder Hirzenhain, herrschten erbärmliche Zustände. Anderthalbtausend Einwohner Warschaus wurden von den Deutschen im Herbst 1944 in das KZ „Katzbach“ in den Frankfurter Adlerwerken verschleppt, viele von ihnen starben durch die katastrophale Behandlung und bei „Todesmärschen“. Nach Kriegsende als „Displaced Persons“ bezeichnet, blieben hunderte von Polinnen und Polen in der Region.
Steigende Zahlen
Der langsam zunehmende Strom von Aussiedlern aus Polen ließ die Zahl der Polnischsprachigen allmählich ansteigen: Sie erhielten zwar die deutsche Staatsangehörigkeit, viele sprachen aber gerade in den 1980er Jahren gar kein Deutsch mehr und empfanden sich oft als Polen. Dazu kamen die politischen Flüchtlinge – nach einer ersten, kleinen Zuwanderung 1968 waren es nach Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 mehrere tausend. Sie gründeten Vereine und Zeitschriften. Gleichzeitig nahm das Interesse an Polen in Deutschland zu: Städtepartnerschaften, die Unterstützung für die Gewerkschaft „Solidarność“, das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt, die Frankfurter Buchmesse zeugen teils bis heute davon.
Seit 1991 benötigten Polinnen und Polen kein Visum mehr, um nach Deutschland zu gelangen. Saisonarbeiter auf dem Bau oder in der Landwirtschaft und Pflegekräfte, aber zunehmend auch akademisch gebildete Menschen oder Kreative fanden ihren Weg in die Region. Seit der völligen Öffnung des Arbeitsmarktes für polnische Staatsbürger 2011 hat sich deren Zahl verdoppelt. Die Zahl von deutschen Staatsbürgern mit polnischem Migrationshintergrund liegt ebenfalls hoch. Allein in der Stadt Frankfurt gab es 2017 mehr als 30.000 Menschen mit polnischem Pass oder polnischem Migrationshintergrund.
Wichtiger Bestandteil der deutschen Gegenwart
Polinnen und Polen in der Region können heute auf eine eigene Infrastruktur zurückgreifen: Vielerorts haben polnischstämmige Kinder die Gelegenheit zum Polnisch-Unterricht und zahlreiche polnische katholische Gemeinden kümmern sich um die Seelsorge. Es gibt polnische Geschäfte und Kulturvereine, polnischsprachige Rechtsanwälte und Ärztinnen, polnische Diskotheken und Konzerte, sogar einen polnischen Fußballverein. Allmählich treten Menschen aus Polen aus dem Schatten heraus, werden für die deutsche Gesellschaft sichtbar: Als ein wichtiger Bestandteil der deutschen Gegenwart, die sie schon seit Jahrzehnten mit prägen.